Verändert COVID-19 die Philanthropie in Nordamerika auf Dauer?

Stiftungen und Philanthropen in Nordamerika reagierten schnell auf die COVID-19-Pandemie. Mitte Mai 2020 hatte ich die Möglichkeit in Gesprächen mit einigen Philanthropie-Expertinnen und Geschäftsführungen von Stiftungen Eindrücke zu deren aktuellen Arbeit zu sammeln. Das Bild, das sich ergibt, lässt eine dauerhafte Veränderung von Stiftungspraxis vermuten. Haltungen wie Vertrauen, Kollaboration und Risiko stehen plötzlich im Mittelpunkt des philanthropischen Handelns.

von Michael Alberg-Seberich

Die Vorhersage

Der US-Journallist David Callahan ahnte Ende 2019 schon, was der Stiftungswelt bevorsteht, als er auf seiner Webseite Inside Philanthropy für die kommende Dekade prophezeite: „Auch wenn ich es nicht laut sagen will, aber meine Vorhersage ist, dass in den 2020er Jahren etwas schlimmes geschehen wird – eine das System lähmende Cyperattacke, … oder eine globale Pandemie.“ [1]

Vermutlich ist Callahan nicht davon ausgegangen, dass seine Voraussage so schnell Realität werden würde. Seit März 2020 befinden sich Teile der USA und Canada – auf Grund der föderalen Systeme in beiden Ländern, variieren die Maßnahmen in Bundesstatten bzw. Provinzen – im sogenannten „lockdown“. Stiftungen haben umgehend auf die Situation reagiert. Der Dreisatz der Katastrophenhilfe von „relief“ (Soforthilfe), „recovery“ (Wiederherstellung) und „realignment“ (Neuordnung) zieht sich durch alle Reaktionen der Kolleginnen und Kollegen.

Schnelle Notfallhilfe

Peter Laugharn, Präsident und CEO der Conrad N. Hilton Foundation in Los Angeles, stellt über die ersten Wochen der Pandemie fest: „Wie viele Stiftungen, haben wir uns so aufgestellt, dass wir schnell reagieren konnten. Mitarbeiter haben umgehend die Förderpartner identifiziert, die in den Schlüsselregionen [Anmerkung: der Stiftung] dabei helfen konnten der Pandemie vorzugreifen. Der Vorstand hat schnell Förderungen entschieden.“ Die Conrad N. Hilton Foundation hat auf diesem Weg 19 Millionen US$ in den ersten Wochen der Pandemie gespendet. Schwerpunkte der Stiftungen waren hierbei die circa 60.000 Obdachlosen in der Region Los Angeles und die Vorbereitung Afrikas auf die Pandemie. Zusätzlich, so Laugharn, „haben mehr als die Hälfte der Mitarbeiter das Angebot [Anmerkung: der Stiftung] genutzt individuelle Spenden an gemeinnützige Organisationen zu geben, die an der Notfallhilfe im Rahmen von COVID-19 beteiligt sind.“

Bob Reid, CEO der J.F. Maddox Foundation in New Mexico beschreibt die Reaktion der Familienstiftung wie folgt: „Wir mussten von einem strategischen zu einem taktischen Fokus wechseln und erkennen, dass es in dieser Zeit Wasser zu schöpfen gilt, anstatt einen neuen Kurs zu setzen.“ Die J.F. Maddox Foundation ist in einer Region im Südwesten der USA aktiv, wo die Ölindustrie ein wichtiger Arbeitgeber ist, so dass die Stiftung von Anfang auf COVID-19 und eine schnell wachsende Arbeitslosigkeit reagieren musste. Das Team von Reid arbeitet in dieser Situation mit gemeinnützigen Partnern an der Versorgung der Region mit Grundnahrungsmitteln, Hygieneartikel und temporären Wohnraum.

„Stiftungen treiben meist eigene Agenden, aber wir widerstehen dieser Versuchung, weil wir erkennen, dass Förderempfänger jetzt Unterstützung anstatt Herausforderungen, Bürokratie benötigen“, so Reid. Reid und sein Team geben jetzt mehr und gehen „große Risiken ein, die der Staat nicht tätigen kann“.

Selbstverpflichtung zu mehr und anderem Geben

Phil Buchanan, CEO des Center of Effective Philanthropy (CEP) in Boston und Autor des Buchs Giving Just Right, beschreibt das Gesamtbild in den USA. Es haben dort mehr als 700 Stiftungen eine „Selbstverpflichtung“ des US-Stiftungsverband Council on Foundations unterzeichnet [2], die Förderregeln zu lockern und mehr zweckungebundene Gelder für gemeinnützige Organisationen zur Verfügung zu stellen. CEP, so Buchanan, unterstützt Stiftungen mit „schnellen Befragungen von gemeinnützigen Organisationen, die es Förderern ermöglichen schnell die Bedarfe dieser zu verstehen und herauszufinden welche kurz vor finanziellen Schwierigkeiten stehen.“ Buchanan verweist auf neue Formen der regionalen und überregionalen Kollaboration von Stiftungen im Rahmen von sogenannten „COVID-19 Fonds“.

Chance für eine neue Generation

Sharna Goldseker, Gründerin der gemeinnützigen Philanthropie-Beratung 21/64 und Ko-Autorin des Buchs Generation Impact: How Next Gen Donors Are Revolutionizing Giving, stellt fest, dass „die nächste, junge Generation von Spendern unter den ersten waren, die mutig und schnell reagiert haben.“ Goldseker stellt fest, dass „viele größere Spenden geben als sie für das Jahr geplant haben …, die Spende am Ende des Jahres vorziehen, die Förderkriterien vereinfachen und eigene Initiativen gründen, um zum Beispiel, Gesichtsmasken vor Ort zur Verfügung zu stellen.“ Für Goldseker ist es wichtig, dass „die Pandemie jetzt stattfindet und die Reaktion des philanthropischen Sektors sich weiterentwickelt“.

Die globale Situation im Blick

Jean Paul Warmoes, Geschäftsführer der King Baudouin Foundation United States (KBFUS), die vor allem Spenden nach Europa und Afrika für US-amerikanische Förderer, betreut, hat in den letzten Monaten COVID-19 Notfall Fonds für sechs europäische und acht afrikanische Länder initiiert. „Zweck dieser“, so Warmoes, ist es „das Engagement bestimmter Organisationen in den Ländern hervorzuheben und gemeinsame Spenden für diese zu ermöglichen.“ KBFUS hat auf diesem Weg bis Mitte Mai mehr als 9 Millionen US$ in Spenden im Kampf gegen CVOID-19 in die Welt transferiert. Warmoes betont, dass „trotz der `Nachrichten aus Washington D.C.`, verstehen Amerikaner den Wert und den Bedarf globalen Handelns, um das Problem in Angriff zu nehmen.“

Einen Überblick über alle Förderungen von US-Stiftungen hat die den philanthropischen Sektor unterstützende, Datenorganisation Candid erstellt. [3] Es zeigt sich hier wie wertvoll ein Datenknotenpunkt für den Stiftungssektor und dessen Stakeholder ist und wie vielfältig die Reaktionen der Philanthropie in den USA sind.

Kanada: Jetzt zahlt sich Kollaboration aus

Ein Überblick zu den Reaktionen von Stiftungen in Kanada findet sich auf der Seite des kanadischen Stiftungsverbands Philanthropic Foundations Canada (PFC)[1]. Jean-Marc Mangin, Präsident und CEO von PFC, berichtet, dass „der Verband all seine Programme und Aktivitäten auf COVID-19 konzentriert.“ Zentral sind für den Verband fünf Handlungsleitlinien für Stiftungen, die, so Mangin, „schon in vielen Sitzungen von Stiftungsvorständen angewendet worden sind.“ [4] Es ist bemerkenswert, dass diese Prinzipien die Zusammenarbeit mit dem Staat betonen und die Bedeutung advokatischer Arbeit. Dieser Ansatz war auch zentral für die angesprochen Stiftungsmanager in Kalifornien und New Mexico.

Stephen Huddart, Präsident and CEO, der McConnell Family Foundation in Montreal, unterstreicht, was rasches Handeln bedeuten kann. „Der Vorstand hat schnell entschieden die Förderung der Stiftung um 25 % – von 4 % zu 5 % unseres Stiftungsvermögens – im Jahr 2020 zu erhöhen“, so Huddart. Um dies einzuordnen hilft es zu wissen, dass die McConnell Family Foundation mit einer Fördersumme von 50 Millionen Can$ im Jahr zu den größten Spendern in dem Land gehört und, dass kanadische Stiftungen gesetzliche dazu verpflichtet sind mindestens 3,5 % ihres Stiftungsvermögens auszuzahlen. Huddart berichtet, dass „die Stiftung eine nationale Kampagne mit initiiert hat, die Stiftungen ermutigt in der aktuellen Situation 5 % des Stiftungskapitals zu geben.“ Give5.ca haben sich mittlerweile mehr als 60 Stiftungen angeschlossen. [5]

Der Staat reagiert auf die Philanthropie

Huddart berichtet: “… wir haben einen Fond geschaffen, der gemeinnützige Organisation unterstützt, die selbst in dieser Notfallsituation Hilfe benötigen – … Seitdem wir diese Verpflichtung eingegangen sind hat die kanadische Regierung 350 Millionen Can$ zur Unterstützung dieser zur Verfügung gestellt – verwaltet durch das Rote Kreuz, Community Foundations of Canada und United Way Canada.“

Das es hierbei nicht immer nur um direkte Hilfe geht, zeigt die gerade verabschiedete Koalition von Organisationen The EmergencE Room – ein Wortspiel auf die Wärter „Notfallaufnahme“ und „Entstehung“. Huddart will mit der Initiative explorieren „wie die aktuelle Situation langfristige Entscheidungen beeinflusst mit Blick auf die bevorstehende Wirtschaftskrise, den Klimawandel, etc.“. Für Huddart ist „die kollaborative Haltung und die Geschwindigkeit des Handelns von Stiftungen“ in der COVID-19 Krise inspirierend.

Vertrauen zahlt sich aus

Gena Rotstein, Gründerin der Philanthropie-Beratung Karma & Cent in Calgary, berichtet, dass sie „eine Gruppe von Familienstiftungen alle zwei Wochen in einer Telefonkonferenz zusammenbringen, um sich zu den kurz-, mittel- und langfristigen Folgen für die Region und wie die Stiftungen koordiniert auf Bedarfe reagieren können, auszutauschen.“ Rotstein beobachtet, dass viele Stiftungen „die Organisationen jetzt unterstützen, die sie schon kennen, um schnell Geld zu verteilen.“ Für Rotstein ist die Grundlage hierfür eine vertrauliche Zusammenarbeit in dieser Situation, wo die Stiftungen den Geförderten vollkommene Freiheit beim Einsatz der Spenden lässt.

Diese Eindrücke von Praktikern und Experten in ganz Nordamerika lassen erkennen, dass COVID-19 etwas in der Philanthropie verändert. Die Mobilisierung von zusätzlichen finanziellen Ressourcen in einem so nicht gekannten Ausmaß, was in Deutschland im Übrigen überwiegend ausgeblieben ist, wird in den Medien diskutiert. Wichtiger scheint eine neue Kultur der Kollaboration zu sein, die eine Integration der fachlichen und/oder geographischen Expertise von Stiftungen erlaubt. Zentral ist eine neue Definition des Verhältnisses zu den Geförderten. Ansätze, wie das partizipative Geben, das Geben auf Vertrauensbasis, die zweckungebundene Spende [6] bewähren sich in der COVID-19 Krise in Nordamerika. Wir werden sehen, ob dies dauerhaft die Philanthropie verändern wird. Die Praxis in der Krise zeigt, was möglich ist.

[6] Siehe hierzu auch die Initiative #VertrauenMachtWirkung in Deutschland

Michael Alberg-Seberich ist Geschäftsführer der Wider Sense GmbH, einer spezialisierten Beratung für CSR, Philanthropie und soziales Investieren. Im Juli 2020 erscheint sein neues Buch The Corporate Social Mind bei Fast Company Press.

Symbolbild: Zelte von obdachlosen Menschen in Los Angeles. Stiftungen in Nordamerika unterstützten Obdachlose schon früh in der Corona-Pandemie. Foto: Nathan Dumlao, unsplash.com
Stiftungen in Nordamerika unterstützten Obdachlose schon früh in der Corona-Pandemie. Foto: Nathan Dumlao, unsplash.com

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