Wie ESG-Kriterien Unternehmen strategisch voranbringen

Konzepte sozialer Verantwortung gewinnen als integraler Teil der ESG-Nachhaltigkeitskriterien immer mehr an Bedeutung für Unternehmen. Das ist eine Erkenntnis einer neuen Studie des internationalen Netzwerks „CECP Global Exchange“, dem Wider Sense als deutsche Partnerin angehört. Während das „S(ocial)“ in ESG für Konzerne aus anderen Ländern oftmals längst zur Unternehmensstrategie gehört, gibt es in der deutschen Wirtschaft einigen Aufholbedarf.

von Lisa Steinke

Digitale Infrastruktur, demokratische Kultur, gesellschaftlicher Zusammenhalt – die Corona-Pandemie hat auch in vielen Bereichen Debatten befeuert, die nur mittelbar mit der Virusbekämpfung zu tun haben. Ein Thema dabei: Unternehmensverantwortung. Zahlreiche Sonderprogramme und neu angestoßene Strategieprozesse nicht nur großer Konzerne haben gezeigt, dass Corporate Social Responsabilty (CSR) durch Covid-19 trotz vieler anderer „Baustellen“ weiter an Bedeutung gewonnen hat. Nicht nur, weil Kund*innen und Mitarbeiter*innen mehr unternehmerische Verantwortung einfordern, arbeiten Konzerne, Mittelständler und kleine Unternehmen vermehrt an ihrem „Purpose“. Viele merken auch: Ohne klar formulierte Haltung wird es künftig schwierig im (internationalen) Wettbewerb.

CECP-Report untersucht, wie ESG-Kriterien Unternehmen beeinflussen

Die ESG-Kriterien dienen der Bewertung von Nachhaltigkeit in den drei Bereichen Umwelt (E= Environment), Soziales (S=Social) und Unternehmensführung (G=Governance). Inwieweit Unternehmen diese bereits in ihre Strategien integriert haben, zeigt nun die neue Studie „Global Impact at Scale: Corporate Action on ESG Issues and Social Investments 2020“. Für die Analyse des internationalen Netzwerkes „CECP Global Exchange“ haben Wider Sense und 17 weitere Partnerorganisationen fast 200 Unternehmen aus 23 Ländern und einem durchschnittlichen Umsatz von 8 Milliarden US-Dollar befragt.

Soziale Aspekte gewinnen für Unternehmen zunehmend an Bedeutung

Die wichtigste Erkenntnis der Befragung bezogen auf Deutschland: Neben dem „E(nvironmental)“ gewinnt vor allem das „S(ocial)“ hierzulande in der Unternehmenspraxis stark an Bedeutung. Wie ESG-Kriterien Unternehmen zu Veränderungen veranlassen, wird dadurch deutlich, dass immer mehr Unternehmen auch die globalen „Sustainable Development Goals“ (SDGs) der Vereinten Nationen in ihre Strategien sowie Reporting-Systeme für ihre Nachhaltigkeitsaktivitäten einbinden. SDGs wurden dabei von 20 % mehr Unternehmen eingebunden als im Vorjahr, bei den ESG-Kriterien waren es sogar 72 % mehr.

Insbesondere das „S“ – also die soziale Dimension des ESG-Schemas – wird längst nicht mehr nur auf die Aspekte Arbeitsschutz, Diversity oder gesellschaftliches Engagement als „philanthropische Kür“ reduziert. Vielmehr setzt sich global das Verständnis durch, dass sich Aktivitäten der sozialen Verantwortung mit dem Kerngeschäft und der Unternehmenskommunikation verknüpfen lassen und ihnen somit nicht nur unternehmensintern, sondern auch -extern eine immer wichtigere Rolle zukommt. So ist es wenig verwunderlich, dass die „Social“-Dimension auch als Argument auf Seiten der Finanzinvestor*innen sowie Kund*innen an Präsenz und Bedeutung gewinnt und deren Investitions- bzw. Kaufentscheidungen daher substanziell mit beeinflusst. In Deutschland sind beispielsweise mehr als die Hälfte der Verbraucher*innen bereit, für sozialverträgliche Produkte tiefer in die Tasche zu greifen, fordern aber gleichzeitig mehr Verantwortung von der Wirtschaft. Zu diesem Schluss kam kürzlich der Forschungsbericht „The Corporate Social Mind“.

Wie ESG-Kriterien Unternehmen genau beeinflussen und wie Unternehmen das „S“ in ESG gestalten und in die Praxis umsetzen, zeigen folgende Beispiele.

Die wichtigsten Erkenntnisse der Studie im Überblick

  • Der Trend zur stärkeren Orientierung an bzw. zur aktiven Einbindung von SDGs in Unternehmensbereiche und -prozesse setzt sich fort: Im Gegensatz zum Vorjahr (51 %) gaben 2019 78 % der befragten Unternehmen aus allen Ländern an, dass sie SDGs als führungsrelevantes Thema betrachten, das in einem wichtigen Verhältnis zum Kerngeschäft steht. 47 % dieser Unternehmen berichteten, dass sie die SDGs häufig in die Arbeit der Unternehmensbereiche integrieren. Der deutsche Software-Konzern SAP nimmt beispielsweise insbesondere qualitativ hochwertige Bildung in den Blick (SDG4: Quality Education), indem es Programme zur digitalen Inklusion und Entwicklung von „21st-Century-Skills“ in Communities seiner Unternehmensstandorte anbietet und somit Zugang zu digitaler Bildung ermöglicht.
  • 91 % der Unternehmen gaben an, dass sich der Umfang an sozialen Investitionen zukünftig auf demselben Niveau halten (59 %) bzw. bedeutend erhöhen (31 %) werde.
  • Unternehmensstiftungen spielen nach wie vor eine wichtige Rolle: 70 % der befragten Unternehmen gaben an, mindestens eine Unternehmensstiftung zu haben.
  • 68 % aller befragten Unternehmen gaben in der Umfrage an, dass der Investitionsanteil des „S“ in den ESG-Ausgaben – z. B. in Diversität und Inklusion, Menschenrechte sowie Entwicklung lokaler Gemeinschaften – weiter wachse. Zum Beispiel ermutigt das brasilianische Energie-Unternehmen „Neoenergia“ mit der „School of Electricians“ in Partnerschaft mit der nationalen Behörde für Ausbildung explizit junge Frauen, technische Fähigkeiten für die – sonst männerdominierte – Berufslaufbahn in der Energie- bzw. Elektrikbranche zu erwerben.

Während die Zahlen in eine eindeutige Richtung weisen, eröffnen diverse Fallbeispiele des Reports einen plastischen Einblick, wie sich Unternehmen auf globaler Ebene ihrer sozialen Verantwortung ganz individuell und auf innovative Weise annehmen. Eine Verantwortung, welche seitens Investor*innen und Stakeholder*innen, darunter vor allem Kund*innen, zunehmend eingefordert wird. Ein Beispiel dafür: das japanische Pharmaunternehmen „Shinogi“. Durch die Entwicklung und Umsetzung seines „Communication Barrier-Free Projects“ machte es inklusivere Produkte in Form von barrierefreien Arznei-Verpackungen einem möglichst breiten Spektrum seiner Kund*innen zugänglich und verständlicher. Dafür spricht es gezielt hör- und sehgeschädigte sowie Menschen mit einer anderen körperlichen Beeinträchtigung an. Begleitet wurde der Vertrieb der barrierefreien Arzneien und Medikamente im Jahr 2019 von einer Serie sensibilisierender Seminare für medizinisches Fachpersonal und Pfleger*innen, die zu einer nachweisbar positiven Veränderung in der medizinischen Praxis des Personals führten. Dieses Beispiel verdeutlicht, wie sich die Wahrnehmung sozialer Verantwortung bzw. das gesellschaftliche Engagement eines großen Unternehmens auf smarte und zukunftsorientierte Weise mit dem Kerngeschäft verknüpfen und in einer umfassenden Strategie einbetten lässt, die sich an einer übergreifenden sozialen Mission oder gelebten Unternehmensphilosophie – auch immer öfter als „Purpose“ bekannt – orientiert.

Deutsche Wirtschaft hat bei SDGs noch Aufholbedarf

Mit Blick auf Deutschland zeigt sich: Für Unternehmen gewinnt das „S(ocial)“ in ESG zwar auch hier an Bedeutung. Jedoch bleibt ihr Commitment dafür teils weit hinter dem von Unternehmen aus anderen Ländern zurück. So gaben nur 20 % der für den CECP-Report hierzulande befragten Unternehmen an, dass sich ihre sozialen Investitionen in den kommenden zwei Jahren substanziell erhöhen werden. Weltweit waren es 31 %. Analog verhält es sich bei der Frage, in welchem Umfang die SDGs bisher im Unternehmen genutzt werden: Während 81 % der internationalen Partnerunternehmen angaben, SDGs häufig in ihrer Unternehmenspraxis zu nutzen bzw. sie in die Unternehmensstrategie integriert zu haben, waren es auf deutscher Seite lediglich 40 %.

„Jede Unternehmensführung, die sich in den internationalen Benchmarks und in ihrem Branchen- bzw. Marktsegment nicht den Rang streitig machen lassen will, sollte in Sachen „S“ in ESG sowie der Orientierung und Integration von SDGs definitiv am Ball bleiben, sofern sie sich noch nicht mit dem Thema auseinandergesetzt hat“, fasst Michael Alberg-Seberich zusammen, Geschäftsführer und Partner von Wider Sense. „Die Konkurrenz schläft nicht – das zeigen viele innovative Beispiele aus unserer CSR-Beratungspraxis, bei denen wir unsere Kund*innen dabei unterstützen durften, ihr soziales Engagement besser in ihrem Kerngeschäft zu verankern.“

Drei Entwicklungen zu ESG-Kriterien, die Unternehmen jetzt beachten sollten

Drei Beobachtungen lassen in diesem Zusammenhang branchenübergreifend immer wieder bestätigen. Unternehmer*innen sollten sie nicht nur im Blick behalten, sondern spätestens jetzt zum Anlass für aktives strategisches Handeln nehmen.

1. Strategische Ansätze für das „S“ in ESG entwickeln

Soziale Aktivitäten und Maßnahmen von DAX- bis hin zu mittelständischen Unternehmen beschränken sich längst nicht mehr nur auf bloße Compliance im Unternehmen sowie die alljährliche, traditionelle Förderung des lokal ansässigen Sportvereins. Es besteht vielmehr ein wachsender Bedarf, ein ausgesprochener Ehrgeiz, viel meist noch ungenutztes Potenzial und der Wunsch, ein tiefergehendes und transzendierendes Verständnis sowie praktikable strategische Ansätze für das „S“ in ESG zu erarbeiten.

2. International gültige Kriterien mitdenken

Die Genese einer sozial verantwortungsvollen Unternehmensstrategie – oder vereinzelt bereits eines „Corporate Purpose“ – muss von Beginn an vom Kerngeschäft bis hin zum Bereich Corporate Citizenship viel stärker prozessual, outcome- bzw. wirkungsorientiert und somit indikatorengestützt gedacht werden. Welche grundsätzlichen Unternehmenseigenschaften dafür als Basis dienen können, zeigt z. B. das Buch „The Corporate Social Mind“. Für die konkrete Umsetzung sollten Unternehmen dann bereits während des Design- sowie des Implementierungsprozesses passgenauer CSR- bzw. ESG-Strategien sowie bei der Entwicklung sozialer Berichtsrahmen über GRI-Berichtsstandards hinaus international gültige Ziele und Kriterien wie die Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen oder des Deutschen Nachhaltigkeitskodex (DNK) systematisch mitdenken und integrieren. Hier besteht zuweilen noch Nachholbedarf, wobei sich die Ausprägung des Bewusstseins über die zentrale Bedeutung der SDGs branchenspezifisch zum Teil stark unterscheidet. Dabei birgt die Orientierung an solchen Standards und KPIs nicht nur auf kommunikativer Ebene viele Vorteile für Unternehmen, sondern insbesondere auch hinsichtlich des Trackings oder Monitorings, sprich: wie groß die soziale und gesellschaftliche Wirkung de facto ausfällt, die bisher erzielt wurde.

3. Entwicklungen bei Investor*innen im Blick behalten

Auf Investor*innenseite treten auch zunehmend große Akteur*innen auf den Plan, die sich dezidiert an Indizes und Metriken mit Nachhaltigkeitsschwerpunkt orientieren und ihre Investitionstätigkeit an den UN-SDGs ausrichten. Ein Beispiel von vielen dafür: der Norwegische Innovationsfonds (Norges Bank). Wenn auch zuweilen eng miteinander verzahnt, gilt das „S“ aus Sicht von Finanzinvestor*innen schon längst nicht mehr lediglich als eine Begleiterscheinung des „E“ in ESG. Vielmehr wird es als ein eigenständiger Bereich der unternehmerischen Wertschöpfung betrachtet: Unternehmen werden sich zukünftig mit einer wachsenden Rechenschaftspflicht konfrontiert sehen, die sich beispielsweise in die Bereiche Bildung, Menschen- und Kinderrechte, Anti-Korruption sowie Geschlechtergleichheit und Diversität übertragen lässt. Die Erwartungshaltung an Unternehmen, ihre soziale Verantwortung – und somit ihre „license to operate“ – strategisch wahrzunehmen, als „Corporate Citizen“ zu agieren und ihre soziale Nachhaltigkeitsperformance transparent zu kommunizieren, hat sich somit nicht nur auf gesamtgesellschaftlicher Ebene und aus Kund*innenperspektive Bahn gebrochen. Durch den rasanten Bedeutungszuwachs im Feld der Investor*innen ist die Dimension „S(ocial)“ bereits jetzt für zukünftige Generationen auf lange Sicht zementiert.

Wie sich im Bericht und in der Praxis bereits deutlich abzeichnet, stecken in der zunehmenden Orientierung an ESG-Themen und Kriterien sowie der stärkeren Integration der UN-Nachhaltigkeitsziele in die Geschäftsstrategie und -praxis viel (bislang nicht ausgeschöpftes) Potenzial und eine kolossale Chance für die Förderung einer insgesamt sozialeren und gerechteren Gesellschaft. Jedoch ist es an den Unternehmen selbst und ihren Führungsebenen, diese Themen als solche – bzw. als ihren „Corporate Purpose“ und einem damit einhergehenden Kultur- und Wertewandel – zu begreifen und nicht lediglich aus einem „Compliance-Reflex“ heraus gegenüber den Regulator*innen und Investor*innen, etwa mit Blick auf die Erfüllung der neuen Offenlegungsverordnung bzw. der EU-Taxonomie, zu agieren, um sich daraus mögliche Wettbewerbsvorteile zu verschaffen.

Zumindest legt das Engagement von Unternehmen in prompter Reaktion auf die Covid-19-Pandemie im vergangenen Jahr die Vermutung nahe, dass sich die Corona-Krise im Unternehmenssektor mit Blick auf die Verantwortung und Rolle von Unternehmen als ein Katalysator für einen Paradigmenwechsel in den Unternehmenskulturen, -werten und -haltungen herausstellen könnte.

Über die Studie „Global Impact at Scale“

Die Studie „Global Impact at Scale“ ist die erste einer zukünftig jährlich erscheinenden Berichtsserie zum Thema „Gesellschaftliche Wirkung von Unternehmen“. Sie wurde in Kollaboration von Wider Sense und 17 Partnerorganisationen aus aller Welt erstellt, die Unternehmen zu Fragen sozialer Wirkung und Verantwortung beraten und in der Global-Exchange-Initiative des internationalen Netzwerks „Chief Executives for Corporate Purpose (CECP)“ kooperieren. CECP, ein internationaler Zusammenschluss von Unternehmer*innen, geht dabei auf eine Initiative des US-Schauspielers und Unternehmers Paul Newman zurück, der damit ein Forum für CEOs schaffen wollte, sich mit der gesellschaftlichen Verantwortung von Unternehmen auseinanderzusetzen.

Die neue Studie untersucht, wie ESG-Kriterien Unternehmen weltweit beeinflussen, wie Unternehmen sie mit ihrer internen Strategie verknüpfen und ihr Streben nach mehr sozialer Wirkung in die eigene unternehmerische Praxis sowie ein Konzept des sozialen und gesellschaftlichen Engagements übersetzen. Der Berichtszeitraum erstreckt sich hierbei auf das Vorjahr der Erhebung 2019. Als Grundlage dienten die Daten von fast 200 Unternehmen mit Hauptsitz in 23 Ländern und einem durchschnittlichen Umsatz von 8 Milliarden US-Dollar.

Die Ergebnisse zeigen das „Wer“ und „Wie“ von sozialen Investitionen rund um den Globus, den Einfluss, den die Ziele für nachhaltige Entwicklung und Partnerschaften mit dem Privatsektor auf die sozialen Strategien von Unternehmen haben, und wie Unternehmen auf wichtige Themen wie Diversität und Inklusion, Menschenrechte oder die Zukunft der Arbeit reagieren. Der Bericht wird durch umfangreiche Fallstudien ergänzt, die zeigen, wie führende Unternehmen dazu beitragen, wichtige Themen in ihren Märkten voranzubringen.

Lisa Steinke ist Consultant bei Wider Sense. Ihre Beratungsarbeit umfasst die Bereiche Corporate Citizenship & ESG , Nachhaltigkeits- & Social-Reporting sowie Wirkungsmessung, u. a. zu Themen wie Bildung, Kultur, Wohnen und Stadtentwicklung.

Titelseite des Reports „Global Impact at Scale: Corporate Action on ESG Issues and Social Investments 2020“. Die Studie untersucht, wie Unternehmen Nachhaltigkeit in ihre Strategien integrieren. Infografik: CECP
Infografik „What's happening now“ aus dem Report „Global Impact at Scale: Corporate Action on ESG Issues and Social Investments 2020“. Infografik: CECP
Infografik: CECP
Infografik „What's on the rise“ aus dem Report „Global Impact at Scale: Corporate Action on ESG Issues and Social Investments 2020“. Infografik: CECP
Infografik: CECP

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