Wie COVID-19 den gemeinnützigen Sektor in Großbritannien verändert

Im Vereinigten Königreich ist die doppelte Belastung des gemeinnützigen Sektors greifbar: Während die Arbeit von Wohltätigkeitsorganisationen und Stiftungen wichtiger denn je ist, um die Auswirkungen der Krise auf die Gesellschaft zu mindern, brechen vielen Organisationen ihre traditionellen Einnahmequellen weg.

ein Gastbeitrag von Anne Wrede

Die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Folgen stellen den Alltag der Menschen und unser Miteinander auf den Kopf. Auch wenn die langfristigen wirtschaftlichen, politischen und sozialen Konsequenzen der Pandemie noch schwer einzuschätzen sind, steht schon jetzt fest, dass die Krise vulnerable Bevölkerungsgruppen schwer trifft.

Die Krise stellt somit auch gemeinnützige Organisationen und Stiftungen, die sich der Unterstützung dieser Bevölkerungsgruppen verschrieben haben, vor neue – bis jetzt unbekannte – Herausforderungen.

Auch im Vereinigten Königreich ist die doppelte Belastung des gemeinnützigen Sektors greifbar: Während die Arbeit von Wohltätigkeitsorganisationen und Stiftungen wichtiger denn je ist, um die Auswirkungen der Krise auf die Gesellschaft zu mindern, brechen vielen Organisationen ihre traditionellen Einnahmequellen weg.

Neue Herausforderungen, aber auch neue Möglichkeiten, den sozialen Wandel zu gestalten

Um sich nicht nur den gesundheitlichen, sondern auch den wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Pandemie entgegenzustemmen, hat die Regierung des Vereinigten Königreichs weitreichende Unterstützungsprogramme auf den Weg gebracht.

So sind seit Beginn der Corona-Krise rund 8,9 Millionen Briten – mehr als ein Viertel der erwerbstätigen Bevölkerung – unter dem „Furlough“ Programm der Regierung in den Zwangsurlaub geschickt wurden. Ähnlich wie im Falle des Kurzarbeitergeldes in Deutschland soll durch die staatliche Weiterzahlung von Gehältern während des Zwangsurlaubs ihre langfristige Erwerbstätigkeit gesichert werden.

Trotz dieser Maßnahmen beurteilen die Briten die wirtschaftliche Lage im Land mit wachsendem Pessimismus. Während im März noch 23 % der Briten optimistisch auf eine zukünftige Erholung der Wirtschaft blickten, waren es im Mai nur noch 15 %. Das Vertrauen der Menschen in die britische Regierung hat seit Beginn der Krise ebenfalls gelitten. Ende März beurteilten noch 72 % der Briten die Regierungsarbeit angesichts der Pandemie als „gut“ oder „sehr gut“, Anfang Juni waren es nur noch 39 %.

Auch der gemeinnützige Sektor hat früh die Auswirkungen der Pandemie zu spüren bekommen. Allein in den ersten drei Monaten der Krise könnten Einnahmeeinbußen in Höhe von 4 Milliarden Pfund zu verzeichnen sein. Einnahmen aus Spendengeldern könnten ersten Umfragen zufolge um 48 % einbrechen. Die Krise legt dabei auch die Verwundbarkeit des gemeinnützigen Sektors offen.

Schon vor dem Ausbruch der Pandemie stand der Sektor unter wachsendem Druck: In den letzten Jahren haben immer weniger Menschen Geld an Stiftungen gespendet oder Wohltätigkeitsorganisationen auf andere Weise unterstützt. Gleichzeitig sank das Vertrauen in den Sektor und etablierte Organisationen sahen sich wachsender Konkurrenz durch Start-ups und Sozialunternehmen gegenüber. Schon 2018 kam eine Untersuchung der Initiative Civil Society Futures zu dem Schluss, dass viele gemeinnützige Organisationen ihre Daseinsberechtigung verlieren könnten, wenn sie es nicht schaffen sollten, die sich ändernden Bedürfnisse ihrer Zielgruppen besser zu verstehen und sich diesen anzupassen.

Trotz der wichtigen Rolle, die dem gemeinnützigen Sektor bei der Bewältigung der Corona-Krise zukommt, kam staatliche Unterstützung erst spät. Der Fokus der britischen Regierung lag zunächst darauf, Privatpersonen und der Wirtschaft zu helfen. Das letztendlich im April auf den Weg gebrachte und 750 Millionen Pfund schwere Hilfspaket der Regierung legt das Hauptaugenmerk auf gemeinnützige Organisationen, die im Gesundheits- und Pflegesystem, und somit an „vorderster Front“, gegen die Krise kämpfen. Viele gemeinnützige Akteure im Sozial-, Bildungs- und Kulturbereich, die ebenfalls unmittelbar von der Krise betroffen sind, stehen somit weiterhin vor großen, potenziell existenzbedrohenden Herausforderungen.

Nichtsdestotrotz birgt die Krise auch neue Chancen für den Sektor: Förderstiftungen reagierten schnell und effektiv auf die Pandemie. Corona-Notfallfonds wurden auf die Beine gestellt und Berichts- und Vorlagepflichten von Zuwendungsempfängern gelockert. Auch viele Unternehmen haben schnelle Unterstützung für den gemeinnützigen Sektor zugesagt und sind dabei vielfach neue sektorübergreifende Kooperationen eingegangen. Die Rolle von Unternehmen in der Krisenbewältigung verstärkt dabei auch die Diskussionen rund um den „Purpose“ von Unternehmen und ihren Platz in der Gesellschaft.

Auf lokaler Ebene entwickelten sich ebenfalls schnell Nachbarschaftshilfen und von Privatpersonen ins Leben gerufene Netzwerke, die vor Ort gezielt Hilfe leisten konnten. Allein die Initiative „Furlonteer“, die Arbeitnehmer im Zwangsurlaub mit gemeinnützigen Organisationen, die auf der Suche nach ehrenamtlichen Unterstützern sind, zusammenbringt, verzeichnete innerhalb der ersten 48 Stunden mehr als 1.000 Registrierungen.

Auch Spendenaufrufe von Privatpersonen konnten in der Krise beachtliche Erfolge erzielen. So schaffte es der 99-jährige Weltkriegsveteran Tom Moore rund 30 Millionen Euro Spendengelder für das Nationale Gesundheitssystem NHS einzusammeln. In seinem Spendenaufruf anlässlich seines 100. Geburtstages erklärte er, dass er als Gegenleistung für Spenden 100 Mal jeweils 25 Meter im Garten des Familienanwesens mit seinem Rollator auf- und abgehen werde.

Der gemeinnützige Sektor nach der Pandemie – Chancen nutzen

Die Corona-Pandemie stellt Organisationen, die zu einer besseren und gerechteren Gesellschaft für alle beitragen wollen, vor komplexe Herausforderungen, auf die es keine leichten Antworten gibt.

Während der globalen Finanzkrise 2008 war das Vereinigte Königreich stark in die Entwicklung von internationalen Lösungsansätzen eingebunden. In der gegenwärtigen Krise mangelte es hingegen zunächst an internationaler Koordination. Das globale Ausmaß der Pandemie zeigt jedoch, wie wichtig es ist, globale Lösungen zu finden.

Aus Gesprächen mit unseren Kunden und Partnern im Vereinigten Königreich und Deutschland wird deutlich, wie wichtig partnerschaftliche Ansätze und Kooperationen, auch über Sektor- und Landesgrenzen hinaus, in der gegenwärtigen Krise sind. Schon vor der Pandemie konnten gemeinnützige Organisationen beider Länder viel voneinander über Themen wie Fundraising, Organisationsentwicklung, Partnerschaftsmodelle und Einbindung von Zielgruppen lernen. Bezüglich mancher Themenfelder konnte man Lehren aus den Ansätzen im Vereinigten Königreich ziehen, z. B. wie der Hochschulsektor soziale Wirkung begreift und angeht. In anderen Bereichen, z. B. den Operationsmodellen von Stiftungen, gab es Lehren aus den Ansätzen in Deutschland zu ziehen.

Auch in der gegenwärtigen Krise zeigt sich: Viele der Herausforderungen, vor denen gemeinnützige Organisationen jetzt stehen, mögen sich im Detail unterscheiden, aber oft liegen ihnen doch ähnliche Fragen zugrunde: Wie haben sich die Bedürfnisse von Zielgruppen geändert und wie kann man diese trotz der unbeständigen Lage erreichen? Wie haben sich die eigenen Zielsetzungen, Kapazitäten und Ansätze durch COVID-19 verändert und welche neuen Möglichkeiten gibt es, eine positive gesellschaftliche Wirkung zu erzielen? Die Krise ist dabei auch eine Chance, voneinander zu lernen und gemeinsam starke Antworten für den soziale Wandel zu finden.

Anne Wrede ist Strategy Consultant bei Firetail.

Symbolbild: Street-Art-Porträt einer Krankenschwester mit Maske an einer Hauswand in Manchester. Der gemeinnützige Sektor in Großbritannien wird durch die Krise doppelt belastet. Foto: Matthew Waring, unsplash.com
Der gemeinnützige Sektor in Großbritannien wird durch die Krise doppelt belastet. Foto: Matthew Waring, unsplash.com

Kontakt

  • Anne Wrede
    Strategy Consultant
    Firetail, London