Thesenpapier Nationales Bildungsforum – Wittenberg 2022

Was tun gegen die Bildungsarmut 20 Jahre nach PISA? In dem Thesenpapier zum Nationalen Bildungsforum 2022 finden sich die gesammelten Erkenntnisse, Impulse und Lösungsansätze des Forums, gebündelt in konkreten Thesen wieder. Das ist unsere Antwort auf die Herausforderungen des deutschen Bildungssystems.

Die große Baustelle: Bildungsarmut in Deutschland

Im Jahr 2001 kam die Schockbotschaft von PISA: 22,6 Prozent der Jugendlichen in Deutschland können in der neunten Klasse keinen Text flüssig lesen. Das Ergebnis heute? Die Quote der Bildungsarmen liegt bei 20,7 Prozent. Kaum ein Fortschritt auf der größten Baustelle des deutschen Schulsystems nach über 20 Jahren.

Auf dem 5. Nationalen Bildungsforum am 14. und 15. September fragten wir uns „Warum ist das so? Woran liegt es, dass wir anscheinend keine nachhaltigeren Verbesserungen sehen: An einer Politik, die viele Reformen – Ganztag, Monitoring, Sprachförderung – zwar formuliert, aber nicht konsequent umsetzt?“ und suchten gemeinsam mit über 70 Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis, Politik und Verwaltung, von Stiftungen und Medien in der Lutherstadt Wittenberg nach Lösungen!

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Das Thesenpapier Nationales Bildungsforum – Wittenberg 2022

Die Quintessenz der Diskussionen im Plenum sowie in den Arbeitsgruppen, aber auch die Impulse der Vorträgen wurden in Thesen zu übertragen, um die Erkenntnisse des Forums festzuhalten und in wichtigen Ecken des Bildungssystems hinauszutragen. Dabei wurden bewusst anspruchsvolle Ziele formulieren, sowie Vorschläge dazu gemacht, welche Akteursgruppe besonders angesprochen sind und jetzt handeln müssen.

Unser Ziel ist es, diese Thesen in die richtigen Debatten einzusteuern und Veränderung anzustoßen. Jetzt kamen zum dritten Mal nach 2011 und 2016 die Ergebnisse der IQB-Bildungstrends auf den Tisch, welche den Kenntnisstand deutscher Grundschüler*innen im Lesen, Rechnen und schreiben widerspiegeln. Dieser sei „nicht hinnehmbar“ und „besorgniserregend“: Nur noch die Hälfte aller Grundschulkinder erreichen die Regelstandards in allen drei Bereichen.

Die fünf Thesen zur Bewältigung der Bildungsarmut

  • These 1: Am Anfang steht das sich „Ehrlichmachen“. Ohne einen ehrlichen und offenen Umgang mit den Leistungsdaten können weder Politik oder Verwaltung noch Wissenschaft und Praxis die richtigen Schlüsse ziehen. Das bedeutet: Die verschiedenen Stakeholder nutzen die Bildungsberichterstattung von den IQBDaten über Vera bis PISA, um gemeinschaftlich zu lernen. Politisches Wegducken oder die Schuldfrage bei anderen Stakeholdern zu suchen, muss der Vergangenheit angehören. Die Erkenntnisse müssen in konkrete und nachhaltige Verbesserungsstrategien übertragen werden, über deren Erfolge, wie Misserfolge sich die Verantwortlichen Rechenschaft ablegen.
  • These 2: Es braucht eine realistische Zielsetzung. Gemeinschaftlich sollten sich alle Stakeholder konkrete Ziele setzen, welche ehrgeizig, aber erfüllbar sind. Ein solches Ziel wäre, dass bis zum Jahr 2030 90 Prozent der Schülerinnen und Schüler am Ende der vierten Klasse die Basisstandards in Deutsch und Mathematik erreichen. Auf dieses Ziel fokussieren sich alle am Bildungsprozess Beteiligten. Andere Bildungsziele sind legitim, solange sie die Fokussierung auf das Hauptziel nicht vernebeln. Lesen, Schreiben und Rechnen sind nicht alles, aber wesentliche Grundlage für den weiteren Bildungsweg und Teilhabe an der Gesellschaft.
  • These 3: Es muss ein durchgängiges Bildungskonzept für Kinder von 0 bis 12 Jahren her. Bereits 2002 wurde richtig erkannt, dass in der frühkindlichen Bildung der Schlüssel für spätere Bildungserfolge liegt. Aus dieser Erkenntnis wurden jedoch kaum Schlüsse gezogen. Die Kita versteht sich bis heute nicht als ein Bildungsort auf Augenhöhe mit der Schule. Weder gibt es Bildungsstandards für die frühkindliche Bildung, noch werden die Kompetenzen von Vorschulkindern systematisch getestet. Eine Kitapflicht für Kinder ab vier Jahren wäre ein großer, aber gangbarer Schritt.
  • These 4: Ganztagsschulen sollen als verpflichtende und gebundene Schulen organisiert werden. Ohne ein begleitendes standardorientiertes Bildungskonzept für die Ganztagsschule macht der Rechtsanspruch auf einen Ganztagsplatz (verabredet ab 2026) wenig Sinn. Will man die Chancen des quantitativen Ausbaus der Ganztagsbetreuung für die Bildungsgerechtigkeit in diesem Land nicht verschenken, braucht es auch hier einen Fokus auf die Potenzialentwicklung sozial benachteiligter wie leistungsschwacher Schülerinnen und Schüler.
  • These 5: Der Transfer zwischen Wissenschaft, Politik und Praxis muss besser werden. Bildungspolitische Konzepte benötigen dafür eine stärkere wissenschaftliche Legitimation; die Wissenschaft sollte stärker die Implementation ihrer Befunde in die Welt von Praxis und Verwaltung mitdenken. Das betrifft besonders die Empfehlungen der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der KMK. Die Bildungsstandards und die daran orientierten Bildungspläne der Länder entfalten im Unterrichtsalltag noch längst nicht die für die Sicherung der Basiskompetenzen erhoffte Wirkung. Auch hierzu braucht es neue Transferanstrengung aller. Die bisher mangelhafte Implementierung der Bildungsstandards muss kritisch ausgewertet werden. Aus diesen Ergebnissen ist abzuleiten welche Unterstützungsbedarfe erforderlich sind, damit der Transfer der Bildungsstandards von der Theorie in die Praxis so gelingt, dass sie im Unterricht ankommen.

Das gibt es jetzt zu tun: Diese konkreten Konsequenzen ergeben sich für die Stakeholder

Die Bildungspolitik:

Bildungspolitik fokussiert sich über Legislaturperioden hinweg auf die Verminderung der Bildungsarmut und an dem 90%-Ziel. Schluss mit der „Projektitis“. Über diese grundlegende Zielstellung soll ein breites gesellschaftliches Einvernehmen erzeugt werden. Politik muss hierzu steuernd vorangehen.

Die Bildungsverwaltung:

Die Bildungsverwaltung lässt die Schulen bei diesem Ziel nicht allein. Schulaufsicht und Unterstützungssystemen kommt eine zentrale Rolle zu.

Die Praxis:

Der Bildungserfolg der Kinder wird in der Schule erarbeitet – Schulleitung und Kollegium übernehmen vor Ort Verantwortung für die Qualität der Bildungsprozesse und das Erreichen der Ergebnisse. Dabei werden die Schulen gezielt unterstützt.

Kitas werden zu Bildungshäusern und nehmen die Verantwortung für die Phase der frühen Bildung umfänglich wahr. Der Kampfbegriff der „Verschulung“ verschwindet in der pädagogischen Mottenkiste.

Die Wissenschaft:

Die Bildungswissenschaften betreiben verstärkt transferorientierte Forschung an Schulen und Kitas. Ihre Befunde vermitteln sie in einer verständlichen Sprache.

Die Zivilgesellschaft, Stiftungen und Bildungsverwaltung:

Alle Programme und Projekte im Bildungswesen sind von vornherein so zu planen, dass Ergebnissicherung, Transfer und Weiterführung stattfinden können.

Der Journalismus und die Medien:

Der Bildungsjournalismus kapriziert sich nicht auf einen Negativismus; bei aller berechtigten Kritik zeigt er auch Lösungsansätze auf. Es gibt sie.

22,6 Prozent unserer Jugendlichen können in der neunten Klasse keinen Text flüssig lesen: Das war die Skandalbotschaft von PISA, als die Daten Ende 2001 öffentlich wurden.
22,6 Prozent unserer Jugendlichen können in der neunten Klasse keinen Text flüssig lesen. Warum ist das so? Das Thesenpapier Nationales Bildungsforum 2022 bringt die Antworten aus Wissenschaft, Praxis, Politik, Verwaltung, Stiftungen und Medien in fünf konkreten Thesen zusammen.
Auf dem Nationalen Bildungsforum 2022 in Lutherstadt Wittenberg diskutierten über 70 Expertinnen und Experten zur Frage: „Warum gelingt es unseren Schulen nicht, allen Kindern Lesen, Schreiben und Rechnen beizubringen?".

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